Phänomenologische und pragmatistische Wurzeln einer komplementär-medizinischen Heilmethode. Eine
Neubestimmung für das 21. Jahrhundert.
Albrecht K. Kaiser, Inauguraldissertation zur
Erlangung des Grades Doktor der Philosophie (Dr. phil.)
der Fakultät für Kulturreflexion und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke
Die Arbeit versucht im philosophischen Horizont, die zeitgenössige Praxis der Berufsgruppe von
Osteopath/inn/en - gesetzt als homo percipiens - darzulegen und zu profilieren. Die Schriften der
Gründerväter der Osteopathie A.T. Still und J.M. Littlejohn werden hierfür in ihrem historischen Kontext
systematisch hermeneutisch untersucht. Bei dieser osteopathischen Praxis handelt sich um eine
diagnostische und therapeutische actio palpationis, die zu Wahrnehmungen qualitativen Erlebens führen.
Wie diese Wahrnehmungen erfasst und öffentlich kommuniziert werden können, wird im Gespräch mit
phänomenologischen und semiotischen Partnern untersucht. Dabei erscheint es wesentlich zu beachten, dass
die Wahrnehmungen vor allem auf einer vorpropositionalen Ebene ausgedrückt werden.
Auf diese Weise konstituiert sich eine osteopathische Praxis-Wirklichkeit. Sie gründet sich auf
zwischenleibliche Tast- und Wahrnehmungsrelationen. Dabei handelt es sich um ein kommunikatives
Zwischen, das im Medium des organismischen Gewebes, mittels der Finger unter Produktion von mentalen
Bildern erlebt wird. Mittels der qualitativen Auswertung von osteopathischen Interviewpartnern konnte
festgestellt werden, dass deren Handlungspraxis im vorpropositional ausgedrückten Leibbewusstsein
beginnt, in einer „stummen“, gleichwohl zeichenhaften Kommunikation mit dem Anderen – und zu einer
propositionalen sprachlichen und/oder bildlichen semiotischen Erlebnisexplikation hin reflektiert wird.
Dies ist philosophisch im Kontext von M. Merleau-Ponty und C.S. Peirce, zudem biosemiotisch
nachvollziehbar.
Es konnte mit der Arbeit erstmals systematisch aufgezeigt werden, daß in der Hinwendung zu den
philosophischen Strömungen innerhalb der Osteopathie diese ihrem Ursprung und Charakter nach als eine
Philosophie der Praxis, als Kunstlehre im klassischen Sinn der griechischen Philosophie (τέχνη [techne])
angelegt war. Die Kunstlehre ist fähig, auf den Einzelfall einzugehen, weil sie gegebenenfalls anhand
der palpatorischen Diagnostik die Regeln der Behandlung kreativ weiterentwickelt.
Ferner konnte mit der Arbeit gezeigt werden, daß das Selbsterleben der Osteopath/inn/en in ihrer
zwischenleiblichen Praxis die notwendige Voraussetzung ist, um von der Wirklichkeit der Osteopathie zu
sprechen. Jegliche standardisierte Behandlung ist keine osteopathische.
Als Ausblick dieser Arbeit sollte das bisher für die Osteopathie angenommene Erklärungsmodell eines
Wirkmechanismus in Zukunft verstärkt auf ein tragfähiges philosophisches Modell hin ausgeweitet werden.
Der Suchradius sollte so gewählt werden, dass dabei der homo percipiens nicht aus der 1.
Person-Perspektive verdrängt wird.
Diese Arbeit bietet dazu einen ersten systematischen Neubeginn.
Schlagworte: Tastsinn, Philosophie des Leibes, Philosophie der Wahrnehmung, Kunstlehre (techne),
Qualitative Wahrnehmungen, Osteopathie, Semiotik des Gewebes, Wirkmechanismus